Zwei Jahre Abenteuer und dann plötzlich sitzen wir im Bus nach Bergen, fahren vorbei an unserem Fjord, an Teacher’s Hill, wo unser Direktor mit seinen Kindern steht und eine Norwegen-Flagge schwingt, vorbei an der Wiese mit den Schafen, bei denen wir an sonnigen Tagen auf dem Weg nach Flekke verweilten, vorbei an Jelena’s Haus, die vor ihrer Tür steht und uns nachwinkt, und schließlich vorbei an dem Schild an der Kreuzung in Flekke, auf dem „United World Colleges Red Cross Nordic“ steht. Das Schild, das damals vor zwei Jahren in der Dunkelheit aufleuchtete, als die Scheinwerfer unseres Busses es streiften.
In den letzten zwei Jahren hat sich jeder Tag wie eine Woche und gleichzeitig jede Woche wie ein einziger Tag angefühlt – so viel ist passiert.
Damals kannte ich keine einzige Person, die mit mir in diesem Bus saß. Jetzt sitze ich tränenüberströmt neben einer meiner besten Freundinnen und versuche den Schmerz des Abschieds mit guten Erinnerungen zu lindern.
Wie die Fahrradtour, die ich mit zwei Freundinnen noch in den letzten Wochen vor den Prüfungen spontan unternahm. Unser optimistisches Ziel war es, vom College bis ans Meer zu fahren. Mit dem Auto braucht man dafür eine knappe Stunde und wir dachten, wir könnten es in circa drei Stunden schaffen. Nach den ersten fünfzehn Minuten bergauf hielt ich völlig verschwitzt und schnaufend an. „Ich glaub, ich schaff das nicht. Fahrt lieber ohne mich weiter!“, forderte ich meine Begleiterinnen auf. Aber das kam für sie gar nicht infrage. Stattdessen wurde mir mein schwerer Schlafsack abgenommen, ich bekam das angenehmere Fahrrad, und ein motivierendes Lächeln. Wir setzten unsere Reise fort und langsam ging alles einfacher.
Am Ende kamen wir um Mitternacht, nach sechs Stunden Fahrt, auf der Halbinsel „Lammetun“ an. In der vollkommenen Dunkelheit schlugen wir uns durch einen Wald und bauten unser Zelt direkt am Ufer, im Heidekraut eines Felsens, auf. Wir hatten es tatsächlich ans Meer geschafft! Ich, die schon nach der ersten Viertelstunde aufgeben hatte wollen, war unfassbar dankbar. Ohne die Unterstützung und Motivation meiner Freunde hätte ich es niemals so weit geschafft.
Diese Reise ans Meer symbolisiert meine Erfahrung am College ziemlich perfekt.
Die Art von Solidarität, die in meiner Yeargroup herrschte, habe ich noch nie zuvor irgendwo erlebt. Egal ob wir eng befreundet waren oder fast nie miteinander redeten, ich wusste, dass jeder meiner Coyears für mich da wäre, wenn ich ihn bräuchte. Ob das Sadrac ist, der mir zufällig begegnet, merkt, dass es mir nicht gut geht, und mich umarmt oder Celia, die in der Bibliothek Kekse an ihre gestressten Mitschüler verteilt oder Andreas, der einfach mit mir sitzt und schweigt oder Rasmus, der mir zuhört, egal wie lange ich etwas loswerden muss.
Wenn es eines gibt, was UWC besonders macht, dann sind es die Menschen. So viele wunderbare Menschen mit ihren eigenen Geschichten und Eigenheiten. Menschen, die man oft erst kennenlernen muss, um herauszufinden, wie fantastisch sie sind. Und das braucht Zeit, was am Anfang frustrierend war, weil ich das Gefühl hatte alleine zu sein, während sich um mich herum schon Grüppchen formten. Aber mit der Zeit lernte ich die richtigen Menschen kennen und lustigerweise wurden auch viele, die ich anfangs nicht ausstehen konnte zu meinen besten Freunden.
Bevor ich ans UWC kam, schrieb ich eine Liste mit Dingen, die ich machen wollte, mit meinen Hoffnungen und Ängsten. Unter anderem stand da: „meine Komfortzone verlassen“. Jetzt könnte man sagen, dass es schon relativ weit außerhalb der Komfortzone liegt, im Alter von sechszehn Jahren in ein völlig neues Land zu ziehen, auf einen Campus mitten im Nirgendwo, wo man absolut niemanden kennt. Aber diesen Schritt habe ich im Laufe meiner zwei Jahre noch oft gewagt: Schon bald fand ich mich zum ersten Mal in einem Kajak, mitten auf dem Fjord. Anfangs kämpfte ich noch mit meinem Paddel, das einfach nicht in die Richtung wollte, die ich ihm vorgab. Kajakfahren wurde zu einer meiner absoluten Lieblingsaktivitäten und auch nach einem Jahr empfand ich es als absoluten Luxus, dass ich nach dem Unterricht an einem heißen Sommertag einfach mit meinen Freunden ins Kajak springen und lospaddeln konnte.
Ich entschied mich außerdem bei meiner Fächerwahl für Philosophie, einem Fach, dem ich anfangs sehr skeptisch gegenüberstand. Ich stellte mir lange Unterrichtsstunden vor, in denen wir trockene Begriffe und Fakten über längst verstorbene alte Männer auswendig lernen müssten. Stattdessen fand ich mich in meiner ersten Philosophiestunde auf dem Steg vor unserem Bootshaus wieder, verwickelt in eine lebendige Diskussion mit meinen vier Mitschülern über die Form der Seele. Philosophie wurde zu einem der wichtigsten Aspekte meiner Zeit am UWC. Auch außerhalb des Unterrichts genoss ich unendlich viele philosophische Diskussionen. Ob es darum ging, die Existenz von Gott zu beweisen, zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen oder den freien Willen des Menschen zu verteidigen – wir alle hatten die unterschiedlichsten Meinungen, die wir im Laufe der Zeit lernten immer besser zu argumentieren.
UWC ist der Ort, an dem ich meine Liebe zur Philosophie entdeckt habe und weshalb ich dies jetzt auch studieren werde.
Es ist auch ein Ort, an dem ich die Freiheit hatte, meine außerschulischen Passionen zu entwickeln.
Von meiner ersten Woche bis zum Ende meiner Zeit am UWC war ich Mitglied in zwei Gruppen: der “Gender & Sexuality Group (GAS)” und der “Amnesty International”-Jugendgruppe. Am Ende des ersten Jahres übernahm ich schließlich die Mit-Leitung dieser beiden Gruppen, was bedeutete, dass ich nun einen Großteil meiner Freizeit damit verbrachte, Themenwochen, Filmabende, Workshops und Kampagnen zu organisieren. So entdeckte ich den Aktivismus und meine Passion für Menschenrechte. Am College werden fast alle Gruppen und Veranstaltungen von uns Schülern organisiert, was uns gleichzeitig sehr viel Freiheit und sehr viel Verantwortung gibt. Ich persönlich war begeistert, weil es sich so anfühlte, als ob alles zusammenspielte: mein Wissen aus dem Politikunterricht, meine philosophischen Überzeugungen zur Würde des Menschen, mein Interesse an LGBTQ+ Themen: meine akademischen und außerschulischen Aktivitäten ergänzten sich perfekt.
Ich würde gerne sagen, dass ich auch dankbar bin für die Schwierigkeiten, die mit dem Leben am UWC kamen. Aber bin ich wirklich dankbar für die Bettwanzen, die mich mein ganzes zweites Jahr plagten? Für die schwierigen Mitbewohner, die mich im ersten Jahr nicht schlafen ließen? Für das hohe Arbeitspensum, die unendlichen Deadlines und den Preis, den mein psychisches und physisches Wohlergehen dafür zahlen musste? Nein, dafür bin ich nicht dankbar. Aber für die Menschen, denen ich dadurch näher gekommen bin. Für die Freunde, die auch um Mitternacht da waren, wenn ich sie brauchte. Für die Lehrer, die nachfragten, mich zum Tee einluden und zuhörten. Denn am Ende sind es die Menschen, die unsere kleine Bubble am Fjord so besonders gemacht haben.
Am Anfang waren wir Nummern, 200 Schüler aus über 80 Ländern, aufgeregt, mit so vielen Nationalitäten und Kulturen zusammenzuleben. Paradoxerweise war aber genau das am Ende nicht mehr das Entscheidende. Aus Flaggen und Ländernamen wurden Gesichter, dann Freunde, und irgendwann verschwand die Nationalität im Hintergrund.
Denn im Vordergrund standen wir, die Menschen. Jugendliche, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, aber doch so viel gemeinsam hatten. Vor allem eins: den Willen, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. <3