Waltraud Kröner

“In vielen Diskussionen und Gesprächen mit meinem Sohn staune ich nicht schlecht. Er hat das Debattieren gut gelernt. Damit öffnet er meinen Blick auf seine eigene Perspektive – die ist oft genug erfrischend anders, erfrischend neu! Das ist wichtig in den Zeiten von Populismus und aufwachsenden Zäunen.”

Mein Herz rutscht in die Hosentasche. Gerade gieße ich die Blumen auf dem Balkon. Heute sollte die Entscheidung des UWC-Auswahlkomittees zugestellt werden. Der Postbote schiebt ein kleines Kuvert in den Briefkasten. Felix, mein Sohn, hatte mir erklärt: „Ein kleines Kuvert bedeutet eine Absage. Ein DIN-A-4-Kuvert bedeutet eine Zusage.“ Eine Absage also! Wie soll ich das Felix beibringen? Noch dazu am Telefon über mehrere hundert Kilometer hinweg! Er befindet sich in England – ein Schüler-Austausch-Jahr. Zum Auswahl-Wochenende war er eigens nach Kassel gereist. Begeistert und beeindruckt von den jungen Menschen, die er dort getroffen und kennen gelernt hatte. Verwandte Seelen. Nichts wünschte er sich von da an mehr, als ein Teil der UWC-Gemeinschaft werden zu dürfen. Ich hatte es ihm so gewünscht. Und jetzt – eine Absage!

Auf dem Weg zum Briefkasten suche ich fieberhaft nach passenden, nach tröstlichen, nach ermunternden Worten. Im Briefkasten liegen zwei Kuverts: Ein kleines und eines im Format DIN-A-4. Das Kleine ist ein Strafzettel. Das Große kommt von der Deutschen Stiftung UWC. Über einen Strafzettel hatte ich mich bis dato noch nicht gefreut. Über diesen schon. Felix wird für das College in Costa Rica (UWC-CR) vorgeschlagen. Wie gerne ich ihn mit dieser Nachricht anrufe. Obwohl – mir persönlich wäre Europa lieber gewesen. Felix aber hatte bezüglich des Landes als Priorisierung angegeben „… maximal andere Kultur und maximal weit weg…“. Bitteschön – das hatte er jetzt.

Als Felix das erste Mal von seiner Idee berichtete, sich für ein UWC-College zu bewerben, recherchierte ich ausführlich dazu. Was ich dabei erfuhr, beeindruckte: Da wird Erziehung verstanden als Begleitung junger Menschen auf dem Weg zu verantwortungsvollen StaatsbürgerInnen. Völkerverständigung und der Dienst am Menschen sei die Basis für dauerhaften Frieden. Der Alltag fordert den Umgang mit Andersartigkeit heraus – egal, ob es sich um kulturelle, religiöse oder politische Prägung oder um die sexuelle Orientierung handelt. Wer während der beiden Schuljahre im direkten Umgang miteinander Toleranz und Respekt, Integration und Angenommen-Sein lebt und erlebt, wird das in die Welt hinaus tragen können.

Felix wurde nicht enttäuscht. Er traf auf eine bis dahin nicht gekannte Gemeinschaft. Er schloss Freundschaften, die halten. Auch wenn sie später an anderen Orten, in anderen Kulturen, in anderen Gesellschaften zu leben sind. Das Zusammenleben auf dem Campus, die Vielfalt, der Bezug zur direkten und weiteren Umgebung des Gastlandes, der ungemein engagierte Lehrkörper, die akademische Anforderung – das alles forderte ihn heraus, bereicherte, beflügelte, formte.

„Felix ist ungemein weltoffen geworden in den beiden Jahren am UWC!“ streicht sein Vater heraus. Er ist in seiner Persönlichkeit gefestigt. „… sehr selbstständig geworden und weiß was er will…“ – meint seine Großmutter. Sie ist überzeugt, dass der Aufenthalt am UWC-CR für ihren Enkel und für alle anderen SchülerInnen von unschätzbarem, dauerhaftem Wert ist.

In vielen Diskussionen und Gesprächen mit meinem Sohn staune ich nicht schlecht. Er hat das Debattieren gut gelernt. Klare Position beziehen und sich nicht beirren lassen. Dabei anderen Sichtweisen gegenüber aber nicht ignorant sein. Die lässt er stehen. Gerade damit öffnet er meinen Blick auf seine eigene Perspektive – die ist oft genug erfrischend anders, erfrischend neu! Das ist wichtig in den Zeiten von Populismus und aufwachsenden Zäunen.

Am UWC-CR wird Basisdemokratie gelebt. Manches Mal holt die Leitung zu bestimmten Fragen die Meinung der Schülerschaft ein. Junge Menschen, die solchermaßen ernst genommen und deren Ansichten solchermaßen gewürdigt werden, werden das in ihren Beziehungen und Lebenszusammenhängen selbst leben können. Diese Form der Basisdemokratie scheint mir allerdings eine Besonderheit des UWC-CR zu sein. In andere Colleges reicht mein Einblick nicht.

Zur Abschlussfeier des Jahrgangs 2014-2016 reise ich nach Costa Rica. Zwei Freundinnen begleiten mich. Später hören wir von Felix und anderen SchülerInnen, dass erst mit der Ankunft der Eltern zu diesem besonderen Event soziale Unterschiede in einer Weise sicht- und spürbar wurden, die die Jugendlichen die beiden Jahre zuvor nicht als Alltagselement wahrgenommen hatten… Interessant.

Wir erleben eine gelungene Zeremonie. Aufgeregte Eltern, ein bunter Haufen ebenfalls aufgeregter und wunderbarer junger Menschen, die sich freuen, die traurig sind, die Abschied nehmen müssen. Gehaltvolle Reden, denen zu lauschen sich lohnt. Alle gehen durch das Spalier der FahnenträgerInnen. Alle werden geehrt und für ihren jeweiligen Beitrag zum Gelingen des Ganzen gewürdigt: Vom Lehrkörper zum Pförtner, über das Küchenpersonal zu den Reinigungskräften, zu den First-Years und den Second-Years, zu Gasteltern – ohne Ausnahme. Darüber freue ich mich besonders.

An dieser Stelle möchte ich Ehrung und Würdigung mit meinem Dank ausdrücklich erweitern und ausdehnen auf alle Menschen, die mit ihrer Arbeit in den nationalen (Stiftungs-) Büros, in den nationalen Auswahlkomitees das ‚Ereignis UWC’ überhaupt erst ermöglichen. Mit ihrem unglaublichen Engagement und Einsatz – egal ob haupt- oder ehrenamtlich – erlebe ich sie als die BrückenbauerInnen von visionären pädagogischen Konzepten zur Realität im Kleinen und im Großen. Gleiches gilt uneingeschränkt für Alle, die diese Bewegung finanziell, ideell oder mit ihren Ideen und ihrer Zeit unterstützen.

Ich schließe mich einer meiner Reisebegleiterinnen während der Abschlussfeier an: „Das was hier geschieht, geschieht auch in Begegnung, in der verschiedene Menschen in ihrer Andersartigkeit zusammen kommen und ein gemeinsames Ziel haben. Überall auf der Welt.“ Da hat sie recht. Der „UWC-Geist“ ist nicht außerhalb von unserem persönlichen Leben. Er ist mittendrin.

 

Waltraud Kröner, München 2016